Ausgabe Nr. 4/2020
Themenheft: "Potenziale narrativer Positionen für eine kritische Kriminologie"
Inhalt
Editorial
Potenziale narrativer Positionen für eine kritische Kriminologie
Martina Althoff, Bernd Dollinger & Holger Schmidt
Aufsätze
Narrative Kriminologie? Eine kritische Reflexion neuerer narrativer Positionen der Kriminologie
Bernd Dollinger & Holger Schmidt
In der englischsprachigen Kriminologie ist derzeit viel von Narrationen die Rede. Als narrative criminology etablierte sich jüngst eine Sammelbezeichnung für unterschiedlichste Forschungen, die Narrationen und Kriminalität bzw. Kriminalitätskontrolle aufeinander beziehen. Damit wird ein älteres Thema neu aufgenommen; bereits seit längerer Zeit sind Narrationen auf vielfältige Weise ein Gegenstand kriminologischer Forschung. Wir schildern zunächst diesen Ausgangspunkt, um ihn mit der spezifischen Richtung zu kontrastieren, die maßgebliche VertreterInnen der narrative criminology einnehmen. Im Blickpunkt steht insbesondere die Frage, ob sie mit Recht beanspruchen kann, der Kritischen Kriminologie neue theoretische und/oder empirische Perspektiven zu eröffnen. Wir melden diesbezüglich Zweifel an. Schwierig erscheint aus unserer Sicht, dass die narrative criminology in nicht geringem Maße ätiologisch orientiert ist. Zudem bedient sie sich einer dualistischen Ontologie, die gleichzeitig einem „realistischen“ und einem „konstruktivistischen“ Wirklichkeitsverständnis verpflichtet ist. Damit können zwar unterschiedliche kriminologische Bezüge hergestellt werden, die Kehrseite ist jedoch eine gewisse Inkonsistenz. Wir postulieren demgegenüber eine konsequentere konstruktivistische Ausrichtung, die es zulässt, die Konstitution von Kriminalität als kulturell eingebettete, narrative Praxis zu analysieren.
Devianz als Diskriminierungseffekt. Migration, Internationalität und Abweichendes Verhalten in den Narrationen eines devianten Jugendlichen in Japan
Stephanie Osawa
Restorative Justice hat das bestehende Justizsystem in Deutschland weder grundlegend reformiert noch zu einer Senkung der Inhaftierungsraten geführt, sondern nur das vorhandene Sanktionssystem einer „sovereign justice“ ausdifferenziert. Einen Erklärungsansatz hierfür liefern Mathiesens Arbeitspapiere zur „lautlosen Disziplinierung“ von sozialen Bewegungen. Falls Restorative Justice tiefgreifendere gesellschaftliche Veränderungen bewirken soll, muss sie konsequent als Wertebekenntnis verstanden werden und sich von ihrer „Justizabhängigkeit“ emanzipieren.
Alltagsnarrationen über Konflikte und Kriminalität
Johannes Stehr
Der Beitrag diskutiert das Potenzial von Narrationen für eine kritische Analyse des Kriminalitätskonzepts. Über eine Neukontextualisierung der Studien zu den „Ärgernissen und Lebenskatastrophen“ und zum „Sagenhaften Alltag“ im Kontext der gegenwärtigen Debatte um die „narrative criminology“ and „narrative victimology“ wird – im Rahmen einer narrativen Ethnographie des Alltags – das kritische Potenzial von Narrationen wie auch einer Narrationsanalyse, die Kriminalität als hegemoniale und institutionelle Erzählung versteht, herausgestellt. Über das Einnehmen einer Alltagsund einer Konfliktperspektive werden alternative Erzählungen – Konfliktgeschichten – erkennbar, die als „narratives Eigentum“ im Alltag Bestätigung, im Kontext der Institution Verbrechen & Strafe aber unter Druck gebracht, transformiert und letztlich enteignet werden. Die dominante Kriminalitätserzählung dagegen wird im Alltag eher als narrative Ressource angeeignet, die verwendet wird zur Konstruktion von Moral- und Gefahrengeschichten, mit denen alltägliche, lebenspraktische Moralfragen verhandelt und Handlungsunsicherheiten bearbeitet werden können.
Narrative Erschöpfung – Stasis im Recht zwischen Erzählen und Argumentieren
Kati Hannken-Illjes
Es gibt Geschichten, die sind überbordend, ringen mit und um Plausibilität. Dieser Aufsatz verfolgt als Fallanalyse die Karriere einer überbordenden Geschichte und die Frage, wie die Verteidigung mit dieser Geschichte umgeht. Ausgehend von drei Punkten – die Rolle von Narrationen für die Verteidigung im Strafverfahren, das Konzept der Gegengeschichte und die Gegengeschichte als argumentative Strategie im Licht der Statustheorie – analysiert der Aufsatz basierend auf ethnographischen Daten einen Fall zweifachen versuchten Mordes.
Nachruf auf Axel Groenemeyer
Bernd Dollinger & Holger Schmidt
Buchbesprechungen
Jennifer Fleetwood/Lois Presser/Sveinung Sandberg/Thomas Ugelvik: The Emerald Handbook of Narrative Criminology (Zech)
Bernd Dollinger: Changing narratives of youth crime. From social causes to threats to the Social (Feilzer)