Ausgabe Nr. 3/2022
Themenheft "Desistance-Forschung, Kritische Kriminologie und die Praxis der Straffälligenhilfe"
Inhalt
Editorial
Desistance-Forschung, Kritische Kriminologie und die Praxis der Straffälligenhilfe. Editorial zum Themenheft
Christine Graebsch
Aufsätze
Desistance and the State: Revisiting the Individualization Thesis in Criminology and Criminal Justice (Englisch)
Monica Barry, Stephen Farral & Alan France
Der wachsende Einfluss des Neo-Liberalismus in der Kriminalpolitik und entsprechenden Praxis hat die Responsibilisierung von Individuen mit sich gebracht: Kriminalität und Risiko werden nun tendenziell eher auf der Ebene des Individuums als auf struktureller Ebene angesiedelt betrachtet. Individuen sind allein für ihre Handlungen verantwortlich, nicht nur dafür sich kriminell verhalten zu haben, sondern auch dafür damit wieder aufzuhören. Ihnen wird ihre eigene missliche Lage vorgeworfen (ein epistemologischer Fehlschluss). Diesbezüglich argumentieren wir, dass strukturelle Barrieren für die Resozialisierung und Reintegration durch politische Entscheidungen seit den 1980er-Jahren errichtet wurden. Dies führte dazu, dass Praktiker:innen des Kriminaljustizsystems zunehmend individuumsbezogene Faktoren in den Blick nahmen (Kognitionen, Agency und Fähigkeit zur Erwerbsarbeit) und strukturelle Gründe für Straftaten vernachlässigten. Wir schlagen daher vor, dass der Staat eine stärker proaktive Haltung bei der Rückfallprävention einnehmen und Gelegenheiten für Reintegration eher durch wohlfahrtsstaatliche als durch kriminalpolitische Aktivitäten fördern sollte.
Alldurchdringendes Strafkontinuum. Die Erfahrung ambulanter Sanktionen
Wendy Fitzgibbon, Christine Graebsch & Fergus McNeill
Dieser Beitrag handelt von den Methoden und Ergebnissen einer kleinen Pilotstudie, in deren Rahmen wir Menschen unter strafrechtsbezogener ambulanter Überwachung (Bewährungshilfe, Führungsaufsicht) gebeten haben, Fotos aufzunehmen, die ihre diesbezügliche Erfahrung verbildlichen sollten. Die Bilder wurden in Fokusgruppen und Interviews besprochen. Unsere Herangehensweise verband Elemente von Fotoelizitation und von Photovoice, um sowohl neue Arten von Forschungsdaten über die gelebte Erfahrung von ambulanten Sanktionen zu gewinnen als auch Aufmerksamkeit auf deren spezifische Wahrnehmung durch ihre Adressat:innen zu richten. Es zeigte sich, dass die Teilnehmenden ambulante Überwachung nach der Haftentlassung als Fortsetzung der Bestrafung wahrnahmen, die ihren Alltag durchdringt. Sie suchten allerdings auch Unterstützung, die sich jedoch auch dann, wenn sie als hilfreich erlebt wurde, zugleich als eine schmerzvolle Erfahrung darstellte. Sie strebten nach Anerkennung und freiem Wachstum statt verurteilt und als Risiko wahrgenommen zu werden.
Diskussionsbeiträge
Warum kritische Kriminolog:innen sich mit Desistance-Forschung befassen (sollten)
Christine Graebsch & Veronika Hofinger
Dieser Beitrag präsentiert Argumente für die Befassung der Kritischen Kriminologie mit Desistance-Forschung. Er weist auf einige für die Kritische Kriminologie relevante Forschungsthemen hin, die im deutschsprachigen Raum wenig beachtet wurden, die aber zu der international stark rezipierten Desistance-Forschung hinleiten können. Dabei handelt es sich um die Auseinandersetzung mit gelebten Sanktionserfahrungen durch deren Adressat:innen; um die Beschäftigung mit ambulanten Sanktionen; um praxisrelevante Forschung zu Sozialer Arbeit im Kriminaljustizsystem und um stärker anschlussfähige Kritik an der dominanten Risikoorientierung. Zuletzt werden einige Gemeinsamkeiten zwischen Kritischer Kriminologie (an ihrem weniger orthodoxen Ende) und Desistance-Forschung (an ihrem kritischeren Ende) herausgearbeitet.
Subjektzentrierung als Kriminalpolitik - mit Desistance zu mehr Abolitionismus?
Dörte Negnal & Henrike Bruhn
Mit Desistance wird stets ein Prozesscharakter unterstrichen, der das Konzept für weitere analytische Dimensionen (Zeitlichkeiten, Kontextualisierungen) adressierbar macht. Diese Orientierung bleibt allerdings dem Individuum und dessen Transformation heraus aus „der Kriminalität“ verhaftet, ohne biographie- oder prozessanalytische Ansätze hinlänglich integriert zu haben. Der Fokussierung auf den persönlichen Wandel obliegt eine Statusbestimmung der Betreffenden als (zu) bearbeitende Objekte staatlicher und nicht-staatlicher Akteur:innen, womit sich weniger ein theoretischer oder analytischer Mehrwert aus dem Desistance-Konzept ziehen lässt, denn vielmehr kriminal- und professionenpolitische Ambitionen auszumachen sind.
Unvereinbarkeitsbeschluss
Helge Peters
Eine Bezugnahme zu den Problemvorstellungen der Kritischen Theorie macht Teile der Umrisse der Kritischen Kriminologie deutlich. Erkennbar wird darüber hinaus, dass das sog. Desistance-Konzept mit dieser Kriminologie nicht in Einklang steht.
Im Gespräch
Desistance research and critical criminology: a conversation (Englisch)
Christine Graebsch & Shadd Maruna
Kritische Kriminolog:innen in Deutschland wurden dafür kritisiert, sich mit Desistance-Forschung zu befassen. Nach Meinung von Peters (in diesem Heft) sind beide Forschungsperspektiven miteinander vollständig unvereinbar. Diese Kritik beruht auf einem bestimmten Verständnis des Labeling Approach, das in der deutschsprachigen Kritischen Kriminologie vorherrscht. Aus dieser Perspektive ist Kriminalität ausschließlich als Zuschreibung zu verstehen. Desistance-Forschung wird dann als Zurückspringen auf ein ätiologisches Verständnis von Kriminalität verstanden. Peters richtet seine Kritik speziell auf die Rezeption von Marunas Arbeiten, die nach Peters Meinung Kriminalität als „real“ (also als mit einer Verhaltensqualität versehen) annehmen und das hegemoniale Normensystem unterstützen. Im Gegensatz dazu scheinen kritische Kriminologie und Desistance-Forschung in der internationalen Kriminologie eine friedliche Koexistenz zu führen – wobei Maruna einer der prominentesten Vertreter:innen ihrer Kombination ist. Christine Graebsch fragte Shadd Maruna daher nach seinem Beitrag dazu. Dies mündete in die nachfolgend abgedruckte Konversation.
Kritische Kriminologie in der Praxis? Desistance als Ansatz
Wie geht Kritische Kriminologie in „der Praxis“? Welche Herausforderungen stellen sich Praktiker:innen und welche kriminologischen Impulse bieten sich ihnen? Mit Blick auf den Themenschwerpunkt des Heftes diskutieren wir Potenziale und Grenzen von Desistance. Im Gespräch sind Anna Burgard (Familien- und Jugendgerichtshilfe Wien), Christian Ghanem (TH Nürnberg), Christine Graebsch (FH Dortmund), Jonathan Kufner-Eger (Neustart Wien), Michael Lindenberg (Rauhes Haus Hamburg) und Dörte Negnal (Universität Siegen).
Nachruf
Nachruf auf Gerlinda Smaus
Johannes Feest