Ausgabe Nr. 2/2023
Kriminologisches Journal 2/2023
Inhalt
Aufsätze
Zeitenwende – auch in der Drogenpolitik?
Lorenz Böllinger
Die aktuelle Kontroverse um die Legalisierung von Cannabis erfordert eine interdisziplinäre Analyse des Scheiterns sowie der sozialschädlichen Auswirkungen der gesamten Drogenpolitik. Skizziert wird die Hypothese eines tiefergehenden und grundsätzlichen staatstheoretischen, gesellschaftlichen und kulturellen Konflikts, symbolisiert durch die Cannabis-Legalisierung. Schließlich folgt ein Ausblick auf spezifische Problemlösungen hinsichtlich einer umfassenden Legalisierung aller psychotropen Substanzen.
Über den Zusammenhang von borders und boundaries – ein Beispiel von der deutsch-polnischen Grenze
Sarah Kleinmann
Der Aufsatz gibt Einblick in eine empirisch-kulturwissenschaftliche Studie an der deutsch-polnischen Grenze. Im Zentrum stehen Narrative und Praktiken zu Kriminalität und Devianz – gegenwärtig und in ihrer historischen Dimension. Die Zwischenbefunde erlauben Aussagen darüber, dass heutige Narrative und Praktiken älter als der aktuelle Grenzverlauf sind. So stehen sie etwa in Verbindung zu nationalsozialistischen Perspektiven und gehen auch auf sozialistische Politiken und das über die Jahrzehnte wechselnde Grenzregime zurück. Hervorzuheben sind weiterhin räumliche Zuordnungen von mutmaßlichen Bedrohungen, die immer wieder stark als ‚von außen‘ kommend gedeutet werden.
„Wir haben hauptsächlich Bildungsbürgertum“ – Der Zugang zu Polizeibeschwerdestellen in Deutschland
Marius Kühne
In den vergangenen Jahren haben zahlreiche Bundesländer Polizeibeschwerdestellen in ihren Innenministerien oder als Beauftragte bei den Landtagen etabliert. Bisher wurde die Niedrigschwelligkeit des Zugangs zu diesen Stellen jedoch nicht systematisch erhoben. In der vorliegenden Studie wurde diese anhand bestehender Forschungserkenntnisse operationalisiert und mit der bestehenden Praxis anhand von Interviews mit Mitarbeiter:innen der Beschwerdestellen abgeglichen. Dabei zeigte sich, dass alle untersuchten Beschwerdestellen Defizite in ihrer Ausgestaltung aufweisen. Diese lassen sich teilweise auf rechtliche Vorgaben, häufig jedoch auch auf die etablierte Verwaltungspraxis zurückführen.
Forschungsberichte
Das Projekt „Kollektivphänomene im digitalen Raum“. Zugleich ein Einblick in mögliche Methoden der Auswertung von Daten des sozialen Netzwerks Twitter
Amina Hoppe
Durch die Entwicklungen der Digitalisierung und der weitreichenden Vernetzung haben sich Kommunikationsformen entwickelt, an denen sich eine Vielzahl von Personen an einem öffentlichen Austausch beteiligen und den sozialen digitalen Raum auch zu kollektiv wirkenden emotionalisierten, kritischen Äußerungen bis hin zu Angriffen gegen Dritte nutzen. Das DFG-Projekt „Kollektivphänomene im digitalen Raum“ erforscht diese Phänomene in Hinblick auf Themen, Akteur*innen, Gefährlichkeit und strafrechtliche Würdigung. Die für das Projekt genutzte Datengrundlage, einen Überblick über die verwendeten Methoden, aber auch erste Ergebnisse zu Art und Maß der Kollektivität stellt der vorliegende Beitrag vor.
„Du bist hier anders, egal ob du einen deutschen Pass hast!“ Eine empirische Untersuchung zu Racial Profiling aus der Perspektive von Betroffenen
Lucas Bellmann
Racial Profiling in der polizeilichen Praxis ist seit einigen Jahren auch in Deutschland verstärkt Gegenstand der gesellschaftlichen wie auch der wissenschaftlichen Debatte. Dabei dominiert oftmals die Perspektive der Polizei, während Erfahrungen von Betroffenen erst in Ansätzen wissenschaftlich aufgearbeitet worden sind. Vor diesem Hintergrund liefert der Forschungsbericht Einblicke in die Erfahrungen von Betroffenen anhand eines qualitativ angelegten Forschungsprojekts.
Diskussionsbeitrag
Über oder mit „Verurteilten“ sprechen? − Möglichkeiten und Grenzen einer „Convict Criminology“ in Deutschland
Christine Graebsch & Julian Knop
Während sich die wissenschaftliche Strömung der „Convict Criminology“ in den letzten 25 Jahren international zunehmend etabliert hat, ist sie innerhalb der Kriminologie in Deutschland bisher weitgehend unbeachtet geblieben. Der Beitrag soll die „Convict Criminology“ für ein Publikum in Deutschland vorstellen, indem ihre theoretischen und historischen Grundlagen sowie bisherige Entwicklungen dargestellt werden. Außerdem soll ihre (mögliche) Bedeutung für den deutschen Kontext diskutiert und auf ihr nahestehende Entwicklungen hingewiesen werden.
Im Gespräch
Convict Criminology
Jeffrey Ian Ross & Christine Graebsch
Twenty years have passed since the publication of Convict Criminology by Jeffrey Ian Ross and Stephen Richards (2003: Belmont). Meanwhile Convict Criminology (CC) has become an important perspective in the scholarly field of international critical criminology. The collection of essays edited by Jeffrey Ian Ross and Francesca Vianello “Convict Criminology for the Future” (2021: Abingdon) indicates that CC has been referred to and accepted as a meaningful approach to criminological research in English-speaking, as well as some other (European) countries. Curiously, it does not appear as if German criminologists have formally considered or adopted the CC approach. Thus, on October 10, 2022 a symposium took place at the University of Applied Sciences and Arts in Dortmund. Present at this event was Jeffrey Ian Ross. During the discussions, panelists noted that although there are numerous ongoing activities subsumed by CC that occur in Germany, the CC approach is not formally integrated into German criminological discourse. Presenters offered reasons why this situation exists. In particular, even though there are a few previously convicted Germans who write about crime, criminal justice and corrections, they are usually not academically trained, do not possess a doctorate, nor are they professors. Three major initiatives in this respect presented at the symposium. First, the Prison Archive (a university-attached civil society organisation of professors, lawyers and students) advises prisoners about their rights and uses their answers for understanding their experiences. Another project from the realm of arts and politics (not academia) working in cooperation with a prisoner presented. However, the project that probably comes closest to the ideas of CC is a university course (similar to the popular Inside-Out program) in which prisoners and outside students study together. Building on the discussions during the 2022 symposium, Christine Graebsch and Jeffrey Ian Ross held the following email-conversation about CC.
Rezension
Karl F. Schumann: Experimente contra Kriminalität. 14 wissenschaftliche Abenteuer (Gaby Temme)