Ausgabe Nr. 3/2014
Themenheft "Technologien der Verdachtsgewinnung"
Lars Ostermeier und Bettina Paul (Hrsg.)
Lange Zeit galt die Kritik an der Konstruktion und an dem Aus- und Wegschluss der „üblichen Verdächtigen“ durch das Kriminaljustizsystem als ein identitätsstiftendes Merkmal kritischer KriminologInnen. Verdachtsgewinnung kommt heute in vielfältigen Formen daher: sie kann das Resultat alltäglicher Polizeipraktiken sein, die auf „Erfahrungswissen“ beruhen oder durch Technologien der automatisierten Datenverarbeitung vermittelt sein. Zentrales Merkmal moderner Verdachtsgewinnung ist, dass sie mit „Risikofaktoren“ arbeitet und sich der Praxis des Profilings bedient. Der Umfang der auf diesen Praktiken beruhenden Eingriffe in die Grundrechte von Bürgerinnen ist unterschiedlich und reicht von der völligen Umkehr der Unschuldsvermutung wie bei Flughafenkontrollen bis hin zur Identifizierung scheinbar „gefährlicher“ Individuen oder Gruppen.
Das vorliegende Schwerpunktheft unterzieht Praktiken der Verdachtsgewinnung einer aktuellen Bestandsaufnahme und kritischen Analyse. Die unterschiedlichen Beiträge in Heft 3/2014 sind durch die Fragestellung verbunden, ob und wie sich „neue“ Formen und Strategien der Verdachtsgewinnung von den bisher kritisierten Formen und Strategien der Verdachtsgewinnung unterscheiden. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf den Charakteristika verschiedener technisch vermittelter Praktiken der Verdachtsgewinnung sowie den Folgen ihres Einsatzes.
Inhalt:
Editorial
Lars Ostermeier/Bettina Paul (S. 131-133)
Aufsätze
Datenbanken in der Polizeipraxis: Zur computergestützten Konstruktion von Verdacht
Niklas Creemers/Daniel Guagnin (S. 134-148)
Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Digitalisierung der Informationserfassung und -verarbeitung und der daraus hervorgehenden Transformation von Wissen analysiert der Beitrag die Rekonfiguration polizeilicher Praktiken der Verdachtsgewinnung. Die Digitalisierung von Daten wird dabei als gesellschaftliches Phänomen verstanden, das im Kontext der Polizeiarbeit spezifische Formen annimmt und spezifische Effekte hervorruft. Diese ergeben sich aus der sozialen Einbettung in Diskurse um Sicherheit und den organisationalen Zielen und Strukturen polizeilicher Institutionen. Die Analyse basiert auf einer empirischen Fallstudie zur Rolle von automatisierter Datenverarbeitung in der polizeilichen Ermittlungsarbeit, die im Rahmen des Projektes "Protecting Citizens' Rights Fighting Illicit Profiling" (PROFILING) durchgeführt wurde.
Lügendetektion per Neuroimaging - Visuelle Verdachtstechnologien als soziotechnische Ensembles
Bettina Paul/Simon Egbert (S. 149-163)
Die bislang als diskreditiert geltende Praktik der Lügendetektion erfährt zur Zeit eine neue Akzeptanz, die durch zwei Entwicklungen befördert wird: Zum einen durch den Einsatz von Hirnbild-basierten Detektionstechnologien, zum anderen durch die Einbettung der Lügendetektion in die Suche nach neuen Sicherheitsversprechen im Anti-Terror-Kampf (Littlefield 2011). Mit Blick auf die soziotechnischen Prozesse der neuen bildgebenden Verfahren der Lügendetektion möchten wir herausarbeiten, woraus sich die neue Akzeptanz ableitet: Erstens blicken wir auf die Beschaffenheit der ‚Neuheit’ und der damit verbundenen Leistungssteigerung, die der Technologie zugeschrieben wird. Zweitens weisen wir auf die Bedeutung der Visualität in Hirnbild-basierten Verfahren hin, welche die Überzeugung befördert, dass mit den neuen Formen der Lügendetektion ein ‚Wahrheits’-Instrumentarium entwickelt wurde. Drittens werden die Erwartungen und Hoffnungen, die in den Diskursen über die Einsatzmöglichkeiten zutage treten, mit dem tatsächlich praktizierten Einsatz der neuen Verfahren verglichen. Auf Folgendes ist dabei hinzuweisen: Bereits die Beschäftigung mit den neuen visuellen Praktiken der Lügendetektion schafft einen legitimatorischen Nährboden für zukünftige ‚Verdachtstechnologien’ (Campbell 2005).
Verdacht auf See - Zwischen Befugnissen und Signalen
Sabrina Ellebrecht (S. 164-179)
Mit dem Ziel ein gemeinsames europäisches Lagebild (ESP) über die Situation an den Außengrenzen der Europäischen Union (EU) zu erstellen, werden seit Dezember 2013 unterschiedlichste Daten zwischen EU Staaten und der Agentur Frontex ausgetauscht. Der Beitrag beschreibt das Kombinieren und Assoziieren von Daten und Informationen im Europäischen Grenzüberwachungssystem EUROSUR. Die Visualisierung der im EUROSUR ausgetauschten Informationen plausibilisiert die operative wie informationelle Erschließung des Grenzvorbereichs sowie die Idee einer supranationalen EU Außengrenze.
Gefährliche Gehirne: Verdachtsgewinnung mittels neurobiologischer Risikofaktoren
Torsten Heinemann (S. 180-194)
In den vergangenen Jahren machte die Hirnforschung wiederholt Schlagzeilen mit Erkenntnissen zur Neurobiologie von Aggression und Gewalt. Auf der Basis verbesserter, multifaktorieller Forschungsdesigns soll gewalttätiges und aggressives Verhalten vorhersagbar sein, bevor die Betroffen straf- oder sozial auffällig geworden sind, und so die Verdachtsgewinnung revolutionieren. Dieser Ansatz mag einige Vorteile aufweisen, doch gehen damit auch eine Reihe von Problemen einher, die es kritisch zu reflektieren gilt. Eine neurobiologische Verdachtsgewinnung ist kein neutrales Instrument zur Prävention und Intervention, sondern trägt zur Stigmatisierung, Ausgrenzung und Vorverurteilung bestimmter Personengruppen bei.
Buchbesprechungen
Louise Amoore: The Politics of Possibility. Risk and Security Beyond Probability (Sabine Blum)
Steve Woolgar/Daniel Neyland: Mundane Governance. Ontology and Accountability (Barbara Prainsack)
Kommentar
Kommentar zu Noll/Endrass: Suizidprävention im Gefängnis, sowie Schmit, Der Gefangenensuizid - Ein rein psychiatrisches Problem? KrimJ 1/2014, S. 2-27.
Joachim Walter