Ausgabe Nr. 2/2020
Themenheft: "Reform der Polizeigesetze"
Inhalt
Editorial: Zur Einführung in das Themenheft "Reform der Polizeigesetze"
Johannes Busch, Hannah Espìn Grau und Dirk Lampe
Aufsäze
Vom Kreuzberg zum Breitscheidplatz. Gefährder statt Gefahrenabwehr in den neuen Polizeigesetzen
Tristan Barczak
Seit dem Kreuzberg-Urteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1882 markierten „Gefahr“ und „Störer“ die zentralen Komponenten eines auf die Gefahrenabwehr beschränkten Polizey-Begriffs. Um der Freiheitlichkeit willen meinte der liberale Rechtsstaat, das schädigende Ereignis bis kurz vor dessen Eintritt abwarten zu können – auch um den Preis, den letzten Zeitpunkt für ein rechtzeitiges Eingreifen womöglich zu verpassen. Ein solches Risiko nimmt der moderne Präventions- und Vorsorgestaat nicht mehr in Kauf: Er will gefahrenträchtige Geschehensabläufe nicht erst im letzten Moment unterbrechen, sondern sie gar nicht in Gang kommen lassen. Hier wird das mutmaßlich gefährliche Subjekt anstelle des objektiven Kausalgeschehens, der Gefährder bzw. die Gefährderin anstelle der Gefahr, in den Fokus genommen. Die Person selbst wird zum Bezugspunkt sicherheitsrechtlicher Risikovorsorge gemacht, wobei die Prognose nicht an das kaum kalkulierbare menschliche Individuum anknüpft, sondern dieses als Teil einer Gruppe oder standardisierbarer Situationen behandelt. Subjektivierung und Entindividualisierung gehen Hand in Hand und prägen das moderne Sicherheitsrecht.
„Eine drohende Gefahr für die Demokratie?“ Eine Auseinandersetzung mit dem polizeilichen Gefahrenbegriff am Beispiel desVersammlungsrechts
Saskia Piotrowski und Marius Kühne
Mit der Novellierung der allermeisten Landesgesetze, die die jeweiligen polizeilichen Befugnisse regeln, geht eine Aufweichung des die Polizei ermächtigenden Gefahrenbegriffs einher. Vor diesem Hintergrund wird die Neuregelung dieses Begriffes in den verschiedenen Bundesländern vergleichend analysiert und im Zusammenhang mit staatlichen Strukturen kritisch in Frage gestellt. In einem zweiten Schritt wird die Frage aufgeworfen, inwieweit sich das auf politische Versammlungen auswirken kann.
Was droht mit der drohenden Gefahr? Die Vorverlagerung polizeilicher Eingriffsbefugnisse auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand
Hannah Ruschemeier
Die drohende Gefahr als Mittel gegen die aktuellen Herausforderungen des Gefahrenabwehrrechts wird kontrovers diskutiert. Dieser Beitrag knüpft daran an und unterzieht die weiter fortschreitende Vorverlagerung und damit letztlich qualitative und quantitative Ausweitung polizeilicher Eingriffsbefugnisse anhand der Vorgaben des Grundgesetzes einer kritischen Würdigung.
Technologieentwicklung und Polizei: intensivere Grundrechtseingriffe auch ohne Gesetzesänderung
Jan Fährmann, Hartmut Aden und Alexander Bosch
Im Kontext kontroverser Diskussionen über die Notwendigkeit zusätzlicher gesetzlicher Befugnisse zu polizeilichen Grundrechtseingriffen werden rein faktische Auswirkungen technologischer Entwicklungen oft übersehen: Auch dort, wo polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse dem Wortlaut nach gar nicht erweitert werden, kann ihre Eingriffsreichweite und -tiefe allein dadurch wesentlich größer werden, dass leistungsfähigere Technik eingesetzt wird. Dieser Beitrag zeigt, dass die Wirkungen auf die Betroffenen und die Voraussetzungen, unter denen polizeilicher Technikeinsatz für sie akzeptabel ist, in rechtspolitischen und -dogmatischen Diskussionen meistens vernachlässigt werden. Klar definierte Eingriffsbefugnisse und grundrechtsschonende Technologiegestaltung bieten sich als Wege für eine rechtsstaatlich orientierte Gesetzgebung zur polizeilichen Techniknutzung an.
Lernfähige Systeme, lernfähiges Polizeirecht. Regulierung von künstlicher Intelligenz am Beispiel von Videoüberwachung und Datenabgleich
Sebastian J. Golla
Die Polizei erprobt Methoden künstlicher Intelligenz bei Videoüberwachung und Datenauswertungen. Dieser Beitrag untersucht anhand der jüngst reformierten Polizeigesetze, wie das Polizeirecht den Einsatz von KI sachgerecht einhegen kann.
Präventiver Freiheitsentzug zur Terrorismusbekämpfung? Zur faktischen Derogation von Menschenrechten ohne Not
Grischa Merkel
Am Beispiel des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei (BayPAG) lassen sich Gefahren für rechtsstaatliche Garantienbaufzeigen, wenn polizeilicher Freiheitsentzug über den bislang geltenden Rahmen hinaus erweitert werden soll. Denn auf sog. Gefährder*innen ausgerichteter Freiheitsentzug steht nicht im Einklang mit dem Recht auf Freiheit und Sicherheit der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). Diese faktische Derogation von Art. 5 der EMRK begründet sich in Anbetracht nur vereinzelter politisch motivierter Anschläge mit überschaubarem Ausmaß in Deutschland auch nicht mit einem öffentlichen Notstand.
Krimmigration in der Verflechtung von Polizei- und Migrationsrecht. Pre-Crime, ban-Opticon und Präventivgewahrsam
Christine M. Graebsch
Der Beitrag behandelt Aspekte der jüngsten Polizeigesetzreformen im Kontext von Krimmigrationsrecht, dem Zusammenspiel und Verschmelzen von migrations- und kriminalrechtlicher Sozialkontrolle. Die Verflechtung beider Bereiche tritt in besonderem Maße dort in Erscheinung, wo es um erst noch in der Zukunft erwartete Straftaten (pre-crime) geht. Daher ist das präventiv ausgerichtete Polizeirecht in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Die Verbindungen zur Migrationskontrolle werden am Beispiel von verdachtsunabhängigen Kontrollen, Aufenthaltsvorgaben und Präventivgewahrsam dargestellt. Der Beitrag setzt sich mit dem juristischen Normenprogramm und den wenigen vorhandenen Erkenntnissen zur Rechtswirklichkeit auseinander. Es wird die Frage gestellt, wie sich die neueren Gesetze auf die Entwicklung von Kontrollformen auswirken und ein Blick auf Forschungsergebnisse aus Großbritannien geworfen, die sich mit der Wahrnehmung präventiv ausgerichteter Einsperrung durch die Betroffenen befassen.