Ausgabe Nr. 3/2021
Themenheft "Drugs and Digital Technologies"
Inhalt
Editorial
Editorial zum Themenheft
Meropi Tzanetakis & Bernd Werse
Aufsätze
A qualitative analysis of the Russian cryptomarket Hydra
Anastasia Meylakhs & Ramil Saidashev
Hydra gilt als der größte digitale Marktplatz für unerlaubte Produkte in russischer Sprache mit mehr als vier Millionen Euro Umsatz jährlich. In diesem Beitrag wird eine qualitative Analyse der einzigartigen Organisation des Kryptomarktes Hydra vorgenommen. Der theoretische Rahmen für diese Untersuchung beruht auf Informationsasymmetrie und Annahmen aus der Signaling-Theorie. Dazu wurden im Rahmen einer longitudinalen Satzanalyse und einer nicht-teilnehmenden Beobachtung zwischen 2019 und 2021 Daten erhoben. Hydra erweist sich als ein monopolistischer Marktplatz in Russland ohne Alternativen in derselben Größenordnung; im Vergleich zu internationalen Kryptomärkten zeigen sich deutliche Unterschiede. In dieser Analyse werden drei Themen vorgestellt: physische Verstecke, formalisierte Regeln und die Architektur des Hydra-Marktplatzes. Im Gegensatz zur weitverbreiteten Bedeutung des Postwesens für internationale Kryptomärkte beinhaltet Hydra eine neuartige Liefermethode in Form von Verstecken, bei der
Kund*innen einem höheren Risiko ausgesetzt sind von Justizbehörden erwischt zu werden, da sie vergleichsweise stärker in die Drogenbeschaffung einbezogen werden. Käufer*innen müssen hier die Drogen nicht nur auswählen und bezahlen, sondern sie müssen bei Hydra auch „auf die Straße gehen“ und persönlich ihre erworbenen Drogen ausfindig machen. Während ausgefeilte formalisierte Regeln basierend auf strengen Sanktionsmechanismen (z. B. Strafzahlungen) jeden nur erdenklichen Aspekt der Interaktion mit dem Marktplatz abdecken, ermöglicht eine mehrschichtige Plattform-Architektur das Entstehen von komplexen Hierarchien und Segregation von Nutzer*innen. Hydra bietet auch automatisierte Services rund um den Drogenverkauf (z. B. Direktkäufe, Konfliktbeilegung ohne Vermittlung). Zudem ist persönliche Kommunikation zwischen den Nutzer*innen durch die Architektur der Plattform beschränkt, so dass die öffentlich sichtbare Kommunikation die einzige Entscheidungsgrundlage für Kund*innen darstellt. Die Erkenntnisse werfen Fragen auf zur Rolle von Glaubwürdigkeitssignalen, Informationsasymmetrie und formalisierten Regeln für Produktqualität, stabile Tauschhandlungen und Kommunikationsprozesse.
“You only do it with people you know”: A case study of acquisition strategies by cannabis engagers in Riga, Latvia
Kristiana Bebre
Dieser Artikel untersucht die Dynamiken des Cannabismarktes in einem Land, das nicht dafür bekannt ist, eigene neue Erkenntnisse oder Politikansätze zu entwickeln. Dafür wurden 27 halbstrukturierte Tiefeninterviews mit Cannabis-Erfahrenen in Riga (Lettland) geführt. Cannabis-Erfahrene sind jene, die unmittelbar mit Cannabis zu tun haben (z. B. mittels Konsums, Produktion, Weitergabe). Neuere Studien aus anderen Ländern verdeutlichen die Bedeutung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) in nicht-regulierten Drogenmärkten. Während Darknet-Marktplätze oder Social-Media-Anwendungen zunehmend als Alternative zu traditionellen Drogenmärkten diskutiert werden, zeigt dieser Beitrag, dass digitale Tools in Riga nur selten für den Kauf von Cannabis verwendet werden. Traditionelle soziale Netzwerke und Weitergabe unter Freunden oder Bekannten („Social Supply“) spielen eine zentrale Rolle in der Beschaffung von Cannabis und für die Vermittlung des Zugangs zu kommerziell Handelnden. Allerdings werden sowohl IKT als auch traditionelle soziale Netzwerke dazu verwendet, sich über Schadensminimierung beim Cannabiskonsum zu informieren.
Outlining a typology of steroid suppliers located on a popular international fitness and bodybuilding Forum
Luke Turnock
In den letzten Jahren konnte ein Anstieg des Gebrauchs von Substanzen zur Leistungssteigerung und Beeinflussung des äußeren Erscheinungsbildes (image and performance enhancing drugs; IPED) festgestellt werden. Vor dem Hintergrund, dass Zugang zu und Distribution von Drogen wichtig für die Schadensminderung sind, ergründet dieser Artikel den Handel mit IPED auf einem Fitness-Online-Forum. Mittels digitaler Ethnographie und Daten aus über 28.800 einzelnen Forenbeiträgen wird eine Typologie von Händler*innen entwickelt. Die Ergebnisse zeigen die Diversität von Handel in diesem kulturellen Raum auf, die sich anhand von vier Achsen darstellen lässt: offener vs. geschlossener, allgemeiner vs. spezialisierter und etablierter vs. opportunistischer Handel sowie Verkauf von selbst hergestellten vs. dem Weiterverkauf von fertigen Produkten. Diese Typologie trägt zum Verständnis bei, wie die „offene“, aber dennoch kulturell eingebettete Marktstruktur von Foren unterschiedliche Normen des Handels beeinflusst. Mit diesem Beitrag werden traditionelle Konzepte illegaler Drogenmärkte teils in Frage gestellt und veranschaulicht, wie die kulturelle Einbettung von Marktstrukturen in zunehmend populären digitalen Marktplätzen Normen für den Handel beeinflussen.
Murder in live streaming and the chronicle of drug dealing: Social Media and drug trafficking in Brazil
Adriana Braga
In diesem Beitrag werden die Funktionen von Smartphones für unterschiedliche Aufgaben innerhalb der hochkomplexen Produktionskette des Drogenhandels in Brasilien untersucht. Ausgehend von einem ethnographischen Ansatz im Hinblick auf die Nutzung mobiler Technologien, betrachtet der Artikel die digitale Medienberichterstattung über die Nutzung von Smartphones durch kriminelle Organisationen in Brasilien und verbindet dies mit Kommentaren und sozialen Interaktionen von Nutzer*innen. Ein zentraler Punkt bei der Charakterisierung von Gewalt in Brasilien ist die komplexe Verflechtung zwischen Polizei, Gesellschaft und Drogenhandel als professionelle Praxis, in der politische Ideologien und Klassenkampf zusammenwirken. Die Ergebnisse zeigen entscheidende Fragen zu Widersprüchen in der zeitgenössischen brasilianischen urbanen Gesellschaft auf: die Relevanz digitaler Technologien für kriminelle Praktiken, die fehlende Kontrolle von Inhalten durch Soziale Medien, die Diskrepanz zwischen den Ansprüchen der Polizei und ihren tatsächlichen Handlungen, die Effizienz krimineller Organisationen bei der digitalen Kommunikation unter Ausnutzung der offenen Möglichkeiten des Internets und die Arbeitsweise krimineller Organisationen in Bezug auf den Krieg um die Kontrolle von “Territorien”.
Buchbesprechungen
James Martin, Jack Cunliffe, Rasmus Munksgaard: Cryptomarkets: A research companion (Marx)
Martina Althoff, Bernd Dollinger, Holger Schmidt: Conflicting Narratives of Crime and Punishment (Walklate)