Ausgabe Nr. 4/2021
Kriminologisches Journal 4/2021
Inhalt
Aufsätze
Als Kriminalität eine Biografie bekam. Paradoxien der Konzeptualisierung von Kriminalität in den Kriminalgeschichten der Spätaufklärung
Bernd Dollinger
Ende des 18. Jahrhunderts wurden in Deutschland Kriminalgeschichten als besonderes Genre etabliert. Sie waren nicht vorrangig juristisch ausgerichtet, sondern verfolgten den Anspruch einer authentischen Darstellung von TäterInnen-Persönlichkeiten und ihrer Hintergründe. In der historischen Forschung wurden die mit diesen Geschichten assoziierte Trennung von moralischen und juristischen Bewertungskategorien sowie die resultierenden Paradoxien rekonstruiert. In dem Beitrag wird dies anhand einer Analyse von beispielhaften Geschichten weitergeführt zu der Perspektive, dass mit den Geschichten eine biografische Sicht auf Kriminalität und TäterInnen konsolidiert wurde, die gleichfalls von Paradoxien begleitet wurde.
Diagnosen im Außendienst. Formen der Aneignung und Verwendung psychiatrischen Wissens in der Sozialen Arbeit
Martin Harbusch & René Pingel-Rathke
Im vorliegenden Artikel werden auf Basis einer Interviewstudie Verwendungsweisen der Idee „psychische Störung“ im Feld der Sozialen Arbeit nachgezeichnet. Gezeigt werden soll, auf welche Weise Sozialarbeitende mit psychiatrisch organisierten Ideen von Normalität und Abweichung in ihrem Arbeitsalltag umgehen. Professionelle der Sozialen Arbeit kommen bei der alltäglichen Reproduktion psychiatrischer Wissensordnungen als bedeutende Akteur*innen in den Blick, die aktiv zum Erfolg psychiatrischer Deutungen für irritierte soziale Situationen beitragen, indem sie in ihrer Arbeit soziale Zusammenhänge zu psychiatrischen machen; oder dies eben gerade nicht tun. Die Ergebnisse der Studie erweitern die klassischen soziologischen Kritiken an der Psychiatrie, indem sie aufzeigen, auf welche Weisen psychiatrische Kategorien heute auch jenseits der Psychiatrie selbst lebensweltliche Bedeutung gewinnen.
Extremismusprävention im Spannungsfeld von Sicherheit und Safeguarding – Eine Diskussion des britischen Prevent-Programms
Sally Hohnstein & Carmen Figlestahler
In aktuellen Zeitdiagnosen und kriminologischen Debatten ist die Verknüpfung von Sicherheit, Prävention und Pre-Crime-Orientierung ein zentrales Thema. In der Bearbeitung von islamistischem Extremismus treten Spannungsfelder besonders deutlich hervor, die sich aus einer Verschränkung von sicherheitspolitischen und (sozial-)pädagogischen Orientierungen unter diesen Vorzeichen ergeben können. Zu deren Diskussion ist der Blick nach Großbritannien sehr aufschlussreich. Dort wurde 2006 mit Prevent eines der ersten europäischen, nationalen Präventionsprogramme etabliert, das v. a. sicherheitspolitisch ausgerichtet ist. Um die Einsichten aus der britischen Diskussion auch für hiesige Fachdebatten anschlussfähig zu machen, wird das Prevent eingelagerte Spannungsverhältnis zwischen einer sicherheitspolitischen Handlungslogik und (sozial-)pädagogischen Logiken nachfolgend einer kritischen Betrachtung unterzogen.
Überlegungen zu einer Kriminologie des Digitalen
Georgia Stefanopoulou
In den letzten Jahren wird vermehrt diskutiert, ob im Zuge der Digitalisierung die Etablierung einer Cyberkriminologie als neue eigene kriminologische Fachrichtung benötigt wird. Der Grundüberzeugung des vorliegenden Texts zufolge wird allerdings etwas mehr als eine „Cyberkriminologie“ benötigt, die sich mit den Bedingungen und den Besonderheiten jener Vorgänge befasst, die als „Straftaten im Internet“ angesprochen werden. Es wird eine umfassende „Kriminologie des Digitalen“ gebraucht, die die digitalisierungsbedingten gesellschaftlichen Umwandlungen als Ganzes in den Blick nimmt und sie in Verbindung mit Devianzkonzepten und Mechanismen sozialer Kontrolle und Prävention aufarbeitet. Im Fokus des Interesses der neuen kriminologischen Ausrichtung sollten der systemische Charakter des digitalen Netzes als relevante Makrostruktur stehen sowie die neuen Verhaltenssteuerungstechniken des Datentrackings und Datenratings.
Im Gespräch
Zum Aufbau eines Zentrums für Analyse und Forschung beim Inlandsgeheimdienst/„Verfassungsschutz“
Ursula Birsl, Professorin für Politikwissenschaft mit den Schwerpunkten Demokratieforschung sowie „Rechtsextremismus und Gender“ an der Philipps-Universität Marburg, Peter Ullrich, Soziologe am Zentrum für Technik und Gesellschaft der TU Berlin und Mitglied im Institut für Protest- und Bewegungsforschung, Reinhard Kreissl, Soziologe und Leiter des Zentrums für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung in Wien, im Gespräch mit Dörte Negnal und Lars Ostermeier
Buchbesprechungen
Holger Schmidt: Ungerechtigkeit im Jugendstrafvollzug. Biographische Erkundungen einer sozialmoralischen Gefühlsregung (Grebing)
Annelie Ramsbrock „Geschlossene Gesellschaft. Das Gefängnis als Sozialversuch – eine bundesdeutsche Geschichte“ (Negnal)