Ausgabe Nr. 4/2022
Themenheft "Defund the Police - zwischen Abolition, DIY-Polizei und Reformen"
Inhalt
Editorial
Defund the Police. Ambivalenzen einer Bewegung
Jenny Künkel & Marie-Theres Piening
Die Black Lives Matter-Bewegung brachte Polizeigewalt und abolitionistische Lösungsansätze weltweit auf die Agenda. Die heterogene Bewegung, die zwischen Kritik an „racial capitalism“ (Robinson) und „Philanthro-Kapitalismus“ (Mayer) changiert, deutet auch die zentrale Forderung, „Defund the Police!“, unterschiedlich aus: Ein „Defund light“ ersetzt Polizei mit Sozialer Arbeit; ursachenbezogene und vom labeling approach geprägte Ansätze fordern Entkriminalisierung und (Re‑)Funding von Daseinsvorsorge; abolitionistische Deutungen setzen auf gesamtgesellschaftliche, auch anti-kapitalistische Transformation. Dies fördert Intersektionalität und Interdisziplinarität und belebt die Analyse anti-rassistischer, dekolonialer und anti-sexistischer Umgangsweisen mit Gewalt und Normbrüchen. Gerade aktivistische Diskurse werden aber nur partiell intersektionalisiert – entlang einer verstärkten Wahrnehmung von Kapitalakkumulation als co-konstitutiv für Rassialisierungen. Dem Abolitionismus gegenläufige Tendenzen im Feld der oft als bloße Geschlechterfrage vereindeutigten sexuellen Gewalt bleiben unbearbeitet.
Aufsätze
Defunding und Rechtsstaat. Über die (rechts-)politischen Strategien im Umgang mit rassistischer Polizeigewalt
Maximilian Pichl
Die Black Lives Matter-Bewegung (BLM) hat global die Debatte um eine grundlegende Reform der Polizei neu angestoßen. Ein Ziel von BLM ist es, dem Polizeiapparat Ressourcen zu entziehen (Defunding). Gegenüber diesem Ansatz verfolgen Akteur:innen aus der klassischen Bürger:innenrechtsbewegung das Ziel, die Polizei rechtsstaatlich einzuhegen. Vor dem Hintergrund einer theoretischen Auseinandersetzung, wie der nationale Rassismus in der Polizei institutionalisiert ist, fragt der Beitrag danach, welchen immanenten Grenzen eine rechtebasierte Strategie und das Defunding ausgesetzt sind, aber auch, welche progressiven Möglichkeiten sie aufweisen. Darauf aufbauend zeigt er, warum es erfolgsversprechend ist, beide Strategien als produktive Ergänzungen zu verstehen.
Polizei abschaffen? Schon geschehen!
Fabien Jobard
Einige Jahre vor der Bewegung Black Lives Matter, die 2020 das Thema prominent auf die öffentliche Agenda gesetzt hat, gab Alex Vitales Buch „The End of Policing“ (2017) der Frage nach der Abschaffung der Polizei einen ersten theoretischen Anstoß. Die Abschaffung der Institution Polizei, die Vitale von den USA aus anstrebt, würde versprechen, endlich mit der Institution zu brechen, die zugunsten der Herrschenden geschaffen wurde und ihre Vorrechte mit Gewaltmissbrauch und rassistischer Diskriminierung ausübt, ohne dabei ihrer gesellschaftlichen Verantwortung (Verbrechensbekämpfung, Hilfeleistung, …) jemals gerecht zu werden. Dieser Artikel stellt dieses Projekt nicht in Frage. In dem Bemühen, die Polizeifrage einerseits zu historisieren und andererseits zu entprovinzialisieren, legt der Artikel jedoch nahe, dass die Polizei eine weniger dominante und omnipräsente Institution ist, als es den Anschein hat, und zeigt so die Ausgestaltung, die Gesellschaften in unserer Geschichte angenommen haben oder heute anderswo als im Westen annehmen, wenn es keine oder fast keine öffentliche Polizeibehörde gibt. Ist das Versprechen einer Gesellschaft ohne Polizei, also keine hoffnungsvolle Utopie, sondern vielmehr bereits Realität in der Welt, in der wir leben?
Stromaufwärts. Community Policing und Community Accountability im Oglala Sioux Tribe
Sonja John
In den 1970er Jahren entledigten sich die Bewohner:innen der Pine Ridge Indian Reservation der repressiven Polizeibehörde. Sie wurde mit dem Department of Public Safety ersetzt, das seine Arbeitsweise nach traditionellen Lakota-Werten des respektvollen und inkludierenden Umgangs ausrichten sollte. Dieser Artikel analysiert den Prozess auf der Basis von Sekundärliteratur und Expert:inneninterviews. Er argumentiert, dass die Lakota-Konzeptualisierung von Community der Weiterentwicklung und Demokratisierung von Community Policing und Community Accountability behilflich sein kann.
Buchbesprechugnen
Adam Elliott-Cooper: Black Resistance to British Policing (Thompson)
Daniel Loick & Vanessa E. Thompson (Hg.): Abolitionismus. Ein Reader (Weißbach)
Cedric Johnson: The Panthers Can’t Save Us Now. Debating Left Politics and Black Lives Matter (John)