Ausgabe Nr. 4/2024
Themenheft "Sicherheitsverwahrung"
Inhalt
Editorial
Sicherungsverwahrung, narrative Identität und diskursive Disziplin unter besonderer Berücksichtigung kognitiv-behavioraler Behandlungsprogramme im Vollzug
Christine Graebsch
Aufsätze
Die Schandflecken des Gefängnisses: Welche moralische Botschaft vermitteln englische Gefängnisse Männern, die wegen Sexualdelikten verurteilt wurden?
Alice Ievins
In den letzten Jahrzehnten ist die Zahl der wegen Sexualdelikten verurteilten Gefangenen in England und Wales erheblich gestiegen, so dass sie heute mehr als 20 % der Gefängnisinsassen ausmachen. Trotzdem sind ihre Erfahrungen in der Haft bisher kaum erforscht worden. Dieser Artikel basiert auf einem ethnografischen Forschungsprojekt, das in einem englischen Gefängnis durchgeführt wurde, in dem ausschließlich Männer untergebracht waren, die wegen Sexualdelikten verurteilt wurden. Es wird argumentiert, dass dieses Gefängnis eine moralisch kommunizierende Institution war – eine Institution, die den Gefangenen etwas darüber sagte, wer sie waren und was sie getan hatten – und dass die Botschaft, die sie ihnen vermittelte, war, dass sie abstoßende „Sexualstraftäter“ waren, die sich schämen sollten. In dem Artikel wird dargelegt, warum diese Botschaft vermittelt wurde, und anschließend argumentiert, dass sie den Gefangenen nahelegte, ihre Schuld zu leugnen, und sie davon abhielt, Verantwortung für ihre Straftaten zu übernehmen. Abschließend wird aufgezeigt, dass die kommunikativen Mängel des Gefängnisses wahrscheinlich nicht zu einer erhöhten Rückfälligkeit führen, aber dennoch ein normatives Problem darstellen.
At What Cost? Interrogating Cognitive-Behavioral Programs in Prison
Jennifer A. Schlosser
This article describes the issues inherent in prison cognitive-behavioral therapy (CBT) programs using a case study from the author’s previous research as an example, assesses the state of the literature on these programs today, and offers practical suggestions for researchers and practitioners to counteract the troubling content these programs produce. These programs represent a new form of discipline impacting on the stories prisoners are supposed to tell about themselves and their offences – about their narrative identity (discursive discipline). The article concludes with the recommendation that researchers qualify their studies investigating whether or not CBT programs in prison reduce recidivism by also investigating the non-material costs of these programs to their incarcerated participants.
Responsibilisierung und „Behandlungsavatare“ in der Sicherungsverwahrung. Zur gerichtlichen Überprüfung des adäquaten Betreuungsangebots der Anstalt
Christine Graebsch
Dem durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausgelösten rechtlichen Umbau der Sicherungsverwahrung von einer Verwahrung Unverbesserlicher zu einer therapeutisch ausgerichteten Unterbringung mit dem Ziel der Gefährlichkeitsminderung haben der Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht Gebote u. a. der Therapie- und Freiheitsorientierung mit gerichtlichen Kontrollpflichten entgegengesetzt. Allerdings stellt die fruchtlose Fristsetzung an die Anstalt nach § 67d Abs. 2 S. 2 iVm § 66c Abs. 1 Nr. 1 StGB für ein adäquates Angebot in der Praxis keinen relevanten Entlassungsgrund dar. Der Beitrag geht vor dem Hintergrund internationaler Gefängnisforschung zu prognosebedingter Einsperrung und kognitiv-behavioralen Behandlungsprogrammen anhand einer Auswertung von Dokumenten aus Fortdauerüberprüfungsverfahren den von Anstalten und Gerichten dafür angegebenen Gründen nach. Es zeigt sich, dass die Verantwortung für das bisherige Scheitern der gefährlichkeitsreduzierenden Behandlung allein den Untergebrachten selbst zugeschrieben wird. Sie sollen sich an dem offiziellen Narrativ orientieren und die Kriminalitätsursachen in ihre Persönlichkeit einschreiben. Dies veranlasst sie zur Ausbildung eines Behandlungsavatars im Sinne eines robotergleichen Zwillings von sich selbst. Dabei sehen sie sich zudem widersprechenden Anforderungen ausgesetzt. Behandlungsavatarhafte Selbstpräsentation lässt sich aber auch auf Seiten der Anstalten in Adaption an die rechtlichen Vorgaben auffinden.
Diskussionsbeitrag
Eine Konversation über die Erfahrung von Sicherungsverwahrung
Christine Graebsch & Thomas Meyer-Falk
Thomas Meyer-Falk wurde vor rund einem Jahr aus der Sicherungsverwahrung entlassen. Anschließend an seinen Vortrag bei der Tagung „Sicherungsverwahrung – und kein Ende? Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme“ (5.-7.3.2024 an der Fachhochschule Dortmund, Strafvollzugsarchiv) führte Christine Graebsch mit ihm per E-Mail die folgende Konversation über seine Erfahrungen in der Sicherungsverwahrung.
Werkstattbericht
‚Clankriminalität‘ – empirische Analysen zu einem kriminalpolitischen Konzept und seiner Verwendungspraxis
Stella Nüschen, Jens Struck, Daniel Wagner & Thomas Görgen
Das im Beitrag dargestellte Projekt hat zum Ziel, eine empirisch begründete, den nationalen wie internationalen Forschungsstand einbeziehende Analyse sogenannter Clankriminalität inklusive einer Reflexion der Kontroversen in Beschreibung und Bearbeitung des mit diesem Begriff verbundenen diffusen Phänomenbereichs zu leisten. Zudem wird der bisherige institutionelle und institutionenübergreifende Umgang mit Erscheinungsformen, die unter diesem Begriff kontextualisiert werden, empirisch beleuchtet. Hierfür wurden eine systematische Literatursynthese erstellt, eine linguistisch-semantische sowie eine empirische Konzeptanalyse (auf Basis medialer und politischer Darstellungsformen) sowie eine Interviewstudie und Fokusgruppenworkshops durchgeführt.
Buchbesprechungen
Hafez, Farid (Hg.):, Operation Luxor. Eine kritische Aufarbeitung der größten rassistischen Polizeioperation Österreichs (Mokre)
Hagemann, Otmar: Restorative Justice. Heilung, Transformation, Gerechtigkeit und sozialer Frieden (Lindenberg)