Ausgabe Nr. 1/2015
Themenheft "Populismus"
Als Schwerpunkt des ersten Heftes der Zeitschrift Kriminologisches Journal im Jahr 2015 hatte sich in der Redaktion und dem Kreis der Herausgeberinnen und Herausgeber „Populismus“ herauskristallisiert – für die Denktradition einer kritischen und reflexiven Sozialwissenschaft eine zentrale und kontinuierliche Thematik. Angesichts der „Demonstrations-Welle“, die durch die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ in Bewegung gesetzt wurde, erhielt der Titel „Schwerpunktthema: Populismus“ eine eigene Aktualität. Nun ist es zwar kein Zufall, dass unter dem Namen Kritische Kriminologie ein selbstaufgeklärtes Wissen über populistische Politik eingebracht werden kann. Aber verfügen wir mit wissenschaftlichem Wissen automatisch über angemessene wissenschaftliche Gegenbewegungen zu populistischer Politik? Mit dem thematischen Schwerpunkt möchte die Redaktion eine kontinuierliche Diskussion initiieren.
Inhalt
Ist die deutsche Kriminalpolitik populistisch? Eine konzeptionelle und empirische Annäherung
Bernd Dollinger, Dirk Lampe, Matthias Rudolph, Henning Schmidt-Semisch
Die Kriminalpolitik ist mit dem Motiv verbunden, die Gesellschaft vor Schaden zu bewahren. Auf einen ersten Blick ist sie deshalb für populistische Tendenzen prädestiniert. Verschiedene internationale Analysen stützen diesen Eindruck. Auf einen zweiten Blick werden allerdings Probleme sichtbar, da die genaue Bestimmung von Populismus nicht nur insgesamt, sondern speziell auch im Bereich der Kriminalpolitik unklar ist. Der Beitrag beschreibt vor diesem Hintergrund Perspektiven, eine populistische Kriminalpolitik in Deutschland zu rekonstruieren. Die empirische Basis hierfür bilden eine Auseinandersetzung mit drei prominenten kriminalpolitischen Kampagnen der vergangenen Jahre sowie eine Analyse von Parlamentsdebatten (Bundestag, Bundesrat sowie vier Landtage), die für die Jahre von 1970 bis 2009 vorgenommen wurde.
Die Politik mit „Verbrechen & Strafe“ als Voraussetzung und Folge von „strukturellem Populismus“
Helga Cremer-Schäfer
Sowohl nationale Diskurse und Kriminalitätsprodukte (steigende wie auf hohem Niveau schwankende) wie Konjunkturen und Kampagnen der Fremdenfeindlichkeit werden intellektuell nur verstehbar, wenn wir den Stellenwert der Politik mit der Institution „Verbrechen & Strafe“ im Rahmen eines „strukturellen Populismus“ bestimmen. Es wird gezeigt, dass populistische Manöver (Identitätspolitik, Bedrohungsszenarien und Feindbildproduktion, legitimierte soziale Ausschließung, kulturindustrielle Politik-Darstellung) in die herrschende Politik übernommen wurden. Dieser Prozess begann mit der Bekämpfung der „gesellschaftlichen Ursachen von Terrorismus und Gewalt“ noch in Zeiten des Fordismus. Mit der Durchsetzung der neoliberalen Produktionsweise wurden die Strategien und Etiketten als „notwendige“ und erfolgreiche Mittel von Politik institutionalisiert.
Crime Talk auf dem Lande. Eine Rekonstruktion der dominanten ruralen Deutungsmuster bezüglich (Un)Sicherheit
Marlene Tietz
Innerhalb der kriminologischen Forschung zum Themenfeld der Kriminalitätsfurcht bzw. kriminalitätsbezogener (Un)Sicherheitsgefühle zeichnen sich deutlich urbane Zonen – in Form des räumlichen Inbegriffes von Kriminalität – als bevorzugter Untersuchungsraum ab. So sind denn auch alle gängigen Kriminalitäts(furcht)theorien im urbanen Milieu zur empirischen Überprüfung herangezogen worden. Rurale Gebiete hingegen werden oft als nicht relevant für „Kriminalität“ betrachtet. Wie wichtig und aufschlussreich allerdings ein differenzierter Blick auf rurale Settings in Bezug auf Sicherheitsmentalitäten sein kann, zeigt die Auswertung qualitativ erhobener Daten mehrerer Gruppendiskussionen. Anhand des crime talk können Spezifika in den ruralen Deutungsmustern rekonstruiert werden, die dem Forschungsfeld einen neuen Impuls geben und Anknüpfungspunkte eröffnen.
Visuelle Privatsphäre und Panoptismus: Datenschutzrechtliche Auskunftsanfragen als soziologisches Krisenexperiment
Robert Rothmann, Thomas Girlinger, Florian Neuburg, Johanna Xenia Kafka
Die digitale Ära konfrontiert uns mit einer umfassenden Visualisierung und Virtualisierung unserer Lebenswelten. Dabei ergeben sich zahlreiche Situationen zur Neuaushandlung der visuellen Privatsphäre. Die vorliegende Studie widmet sich den videotechnisch gestützten Blick- und Machtasymmetrien des Alltags und hinterfragt deren normative Konstituierung. In methodischer Anlehnung an Harold Garfinkels Krisenexperimente und Steve Manns Sousveillance Konzept werden in verschiedenen videoüberwachten Settings datenschutzrechtliche Auskunftsanfragen durchgeführt. Im Fokus des Interesses stehen die Reaktionen auf die Auskunftsanfragen und deren formale Umsetzung. Es zeigt sich, dass die BetreiberInnen das Recht auf Auskunft tendenziell verneinen. Zudem kann eine Reihe an datenschutzrechtlichen Verstößen festgestellt werden. Der Anspruch auf Auskunft erscheint weitgehend illegitim und ist in der Praxis kaum durchsetzbar. Die ideengeschichtliche Figur des Panoptismus findet sich im videoüberwachten Alltag wieder.
Buchbesprechungen
Inga Kroener: CCTV: A Technology Under the Radar? (Egbert)
Christiane Bernard: Frauen in Drogenszenen. Drogenkonsum, Alltagswelt und Kontrollpolitik in Deutschland und den USA am Beispiel Frankfurt am Main und New York City. (Langer)
Informationen
Bundeskongress Soziale Arbeit 2015
Fritz-Sack-Preis 2015
GIWK-Preis für den kriminologischen Nachwuchs 2015